Der holländische Historiker und Kulturphilosoph Johan Huizinga schrieb 1935 in einem Buch, das sich den geistigen Problemen seiner Zeit widmete: "Jetzt ist das Bewußtsein, mitten in einer heftigen, untergang drohenden Kulturkrise zu leben, bis in breite Schichten hindurchgedrungen. Spenglers
Der Prozeß der Desillusionierung eines unbegrenzten Fortschrittsoptimismus, den Huizinga hier mit dem Namen Oswald Spenglers verbindet, scheint auch heute nicht abgeschlossen. Die Symptomatik der Krise hat sich seither in vielem gewandelt, aber das Krisenbewußtsein selbst ist ein konstanter Begleiter des 20. Jahrhunderts geblieben. Wenn deshalb auch die Frage nach der Aktualität Spenglers weiterhin gestellt wird, dann ist es von Nutzen, sich die Umstände seines außergewöhnlichen Erfolges rückblickend noch einmal zu vergegenwärtigen.
Zunächst beruhte dieser Erfolg auf einem Mißverständnis. Das Interesse am Untergang des Abendlandes, das die Auflagenzahlen seit 1919 in Höhen trieb, die andere philosophische Werke auch nach hundert Jahren nicht erreichen, wurde mehr als durch alles andere durch den Ausgang des Ersten Weltkrieges geweckt. Als im September 1918 Spenglers Geschichtsphilosophie erschien, stand die endgültige Niederlage Deutschlands kurz bevor. Der Schock, den sie auslöste, gab der markanten Titelthese nicht nur einen unvorhergesehenen Resonanzraum, er führte auch zu der verbreiteten Annahme, das Buch gebe Auskunft über die Konsequenzen der Niederlage. "Die wahren Ursachen solcher Erfolge schnarchen unter den Bettüchern der politischen Lage", kommentierte der Schriftsteller Carl Einstein das gewaltige Echo auf Spenglers Untergangsphilosophie.
In Wirklichkeit kam die Kapitulation für Spengler nicht weniger überraschend als für die meisten Deutschen. Er hatte während der Arbeit am Untergang des Abendlandes fest an einen deutschen Sieg geglaubt und noch im Vorwort der Hoffnung Ausdruck verliehen, daß sein Werk "neben den militärischen Leistungen Deutschlands nicht ganz unwürdig dastehen" (UdA, X) möge. Obwohl er gut daran verdiente, ärgerte Spengler das Mißverständnis, das seine Philosophie mit der Tagespolitik verstrickte. Als er im Mai 1919 mit seinem Bestseller den Verlag wechselte, legte er Wert darauf, daß der neue Klappentext den Untergang des Abendlandes aus der "trivialen Meinung" der Rezensenten heraushebe, "als ob es sich um einen sozialpolitischen Kommentar zum Kriege handle".
Spenglers Beschwerde war berechtigt. Der Untergang, von dem sein Buch handelte, ging über nationale Größenordnungen hinaus und war durch kurzfristige Anlässe nicht zu erklären. Er bildete vielmehr den Abschluß einer viele Jahrhunderte umspannenden Kurve, in deren Verlauf die großen Kulturen entstanden und vergingen. Diesem zyklischen Gesetz der Weltgeschichte zufolge war auch der Untergang des Abendlandes ein naturhafter, unabwendbarer und in wesentlichen Zügen berechenbarer Vorgang. Aus dem Vergleich mit der Geschichte anderer Hochkulturen kam Spengler dabei zu dem Ergebnis, daß die Verfallsperiode der abendländischen Kultur:, an deren Ende sie vielleicht noch für lange Zeit wie "ein verwitterter Baumriese im Urwald [...] die morschen Äste emporstrecken" (UdA, 143) mochte, bereits im 19. Jahrhundert begonnen habe.
Natürlich profitierte die Glaubwürdigkeit dieser These von den Bildern der Selbstzerstörung, die Europa in den vergangenen vier Jahren erlebt hatte, und so trug der Erste Weltkrieg auch in dieser Hinsicht zum Erfolg der Geschichtsphilosophie Spenglers bei. Der Gang der Argumentation und die zahlreichen Beispiele, an denen Spengler den Abstieg der europäischen Kultur von einer früheren Höhe illustrierte, berührten jedoch Empfindungen, die schon in den Jahrzehnten vor der Jahrhundertwende Zweifel an der aufsteigenden Linie des Fortschritts genährt hatten. Der Übergang von der traditionellen zur modernen Gesellschaft, der sich in den europäischen Ländern seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts vollzog, war nicht ohne Folgelasten geblieben. Bevölkerungswachstum, Industrialisierung, Kommerzialisierung, Urbanisierung, Zunahme der Mobilität, Wandlungen der Lebenswelt und damit einhergehende Einbußen an mentaler Geborgenheit, Verwissenschaftlichung und Wertrelativismus, um nur einige Faktoren aufzuzählen, führten zu einer gesellschaftlichen Gesamtspannung, die in der Forschung als Modernisierungskrise bezeichnet wird. Die Wahrnehmung dieser Krise war in Deutschland besonders stark, denn die Modernisierung, vor allem im ökonomisch-industriellen Bereich, gelangte hier vergleichsweise spät, seit der zweiten Jahrhunderthälfte aber in einem forcierten Tempo zum Durchbruch. Infolgedessen, aber auch aus einer Reihe von weiteren Gründen, kam es zu einem Neben- und Gegeneinander moderner und traditioneller Elemente, das die sozialpsychologischen Konflikte der Modernisierung zusätzlich verschärfte. Ihren weltanschaulichen Niederschlag fand diese Entwicklung in einem wachsenden Kulturpessimismus, dem die Dynamik des Fortschritts suspekt und unheimlich wurde. Neben die Modernisierungskrise trat, wie Thomas Nipperdey bemerkt hat, eine Modernitätskrise.
Die kanonischen Oppositionen dieser Fortschrittskritik, Kultur und Zivilisation, Instinkt und Intellekt, Stadt und Land, Volk und Masse, Kosmopolitismus und Heimat, Gemeinschaft und Gesellschaft, bilden im Untergang des Abendlandes den Stoff der Auseinandersetzung, die Deutung der Krise ,sein großes Thema. Wenn die geschichtsphilosophischen Axiome Spenglers dabei selbst die Leser, die seinen Kulturpessimismus teilten, nicht immer zu überzeugen vermochten, so besaß die beherrschende Perspektive seiner Theorie doch eine enorme Anziehungskraft. Ein Werk, das nahezu alle Motive der zeitgenössischen Kulturkritik verarbeitete und zu einer umfassenden Synthese verband, durfte Aufmerksamkeit und Reaktionen erwarten.
Ein weiteres kam hinzu. In einer Zeit, in der die Spezialisierung der Wissenschaften bereits weit fortgeschritten war, bot der Untergang des Abendlandes eine universale Kulturgeschichte aus einem Guß. ob antike Mathematik oder abendländische Instrumentalmusik, arabische Ornamentik oder chinesische Architektur, Spengler schöpfte aus einem Reichtum an Kenntnissen, der beeindruckte und fesselte. Seine Bildungsodyssee war überdies in einer ausdrucksstarken, zuweilen fast expressionistischen Sprache geschrieben, die selbst schwierige Zusammenhänge spannend darzustellen wußte. Schließlich sorgte auch der magische Titel des Buches für publizistischen Wirbel. All das waren Faktoren, die den Untergang des Abendlandes zum Bestseller prädestinierten. Es ist deshalb nicht ganz gerechtfertigt, wenn sein Erfolg allein durch die besondere Stimmungslage im Nachkriegsdeutschland erklärt wird. Der Untergang des Abendlandes besaß genügend Aussagekraft, um sich von selbst Beachtung zu verschaffen.
Natürlich war nicht alles Gold, was darin glänzte. Der imperative Ton, in dem Spengler sein Wissen ausbreitete, täuschte viele, aber längst nicht alle Leser über die erheblichen Schwächen seiner Darstellung hinweg. Was das weniger kritische Publikum als majestätischen Gang durch die Weltgeschichte bewunderte, erschien den Fachgelehrten mehr wie der geräuschvolle Schritt eines Elefanten im wissenschaftlichen Porzellanladen. Sie bezogen, von wenigen bedeutenden Ausnahmen abgesehen, eine ablehnende Haltung. Mit Recht wiesen sie darauf hin, daß die Ungenauigkeiten im Detail und die Voreiligkeit, mit der Vermutungen als Tatsachen präsentiert wurden, in einem fragwürdigen Verhältnis zu der historischen Sensibilität standen, die Spengler ansonsten für sich reklamierte. Auch seine Methode und seine ganze geschichtsphilosophische Konzeption gaben zu mannigfachen Einwendungen Anlaß.
Es zeigte sich jedoch schon bald, daß die Aktualität Spenglers durch die wissenschaftliche oder philosophische Kritik nicht gebrochen werden konnte. Sie wuchs im Gegenteil noch, als der Philosoph Ende 1919 mit der Schrift Preußentum und Sozialismus auch politisch Farbe bekannte. Gleichfalls ein großer Verkaufserfolg, sprach die Abhandlung der Weimarer Republik die Existenzberechtigung ab und stützte sich dabei wiederholt auf die Leitgedanken der Untergangsphilosophie. Sie verhöhnte die Novemberrevolution und forderte die Errichtung eines autoritären Staatswesens. Auch privat stellte Spengler sich mit großem Eifer in den Dienst der Gegenrevolution. Für die antirepublikanische Rechte war das ein willkommener intellektueller Flankenschutz, für die Mitte und vor allem die Linke eine Provokation. Gerade die philosophische Anmaßung, mit der Spengler auch in gesellschaftlichen und politischen Fragen jeden Widerspruch abqualifizierte, wirkte aufreizend auf seine Gegner. " Was bildet sich dieser gipserne Groschen-Napoleon ein?", schrieb Kurt Tucholsky noch 1931 mit ungefilterter Abneigung.
Das "Denkvakuum" der Nachkriegszeit begünstigte den weltanschaulichen Extremismus. In den zwanziger Jahren gab die "trahison des clercs", wie Julien Benda es nannte, in Deutschland den Ton an. Das war eine Tendenz, die durchaus nicht auf die Rechtsintellektuellen beschrankt blieb. Auch die vom Verlauf der Revolution enttäuschte Linke vergiftete durch ihre obstinate Dauerkritik den Nährboden für eine breite republikanische Gesinnung. n Dennoch ist der politische Bedeutungszuwachs der Kulturkritik ein besonders auffälliger Vorgang. Er hat zur Polarisierung des geistigen Klimas nachhaltig beigetragen. Spenglers enge Verbindung von Philosophie und Politik ist für diesen Prozeß von beträchtlichem Einfluß gewesen.
Erst nachdem im Mai 1922 der mit großer Spannung erwartete Band 11 des Untergang des Abendlandes erschienen war (und allgemein Enttäuschung hervorrief), flaute das Interesse an Spenglers Thesen langsam ab. Die ruhigeren Jahre der Republik zwischen 1924 und 1929 nahmen seinen Prophezeiungen etwas von ihrer Dramatik. Daß seine Stimme weiterhin von Gewicht blieb, demonstrierte aber noch einmal der wiederum sensationelle Erfolg seiner letzten Schrift Jahre der Entscheidung, die im Hochsommer 1933 in die Buchläden kam und als verschleierter Kommentar zur "Machtergreifung" begierig aufgenommen wurde.
Die veränderten Zeitläufte schienen das Werk des 1936 verstorbenen Philosophen endgültig der Vergessenheit anheimzugeben. Im Pantheon der nationalsozialistischen Weltanschauung fand sich kein Platz für Oswald Spengler. Überdies schien der Untergang des Abendlandes durch das persönliche Eingreifen Adolf Hitlers einstweilen abgewendet. Doch der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges rief Spenglers Prognosen manchem wieder ins Gedächtnis. Hatte er nicht geschrieben, daß das Leben Krieg sei und Staatengeschichte die Geschichte von Kriegen? Hatte er nicht den Endkampf der Cäsaren um den Planeten prophezeit, und waren nicht Hitler, Mussolini und Stalin diese Cäsaren? "Der 3. Band seines Hauptwerks wird nicht in Papier erscheinen, sondern als Schlachtfeld u. Generalstabskarte", kommentierte Gottfried Benn im Herbst 1941 sarkastisch Spenglers wiedererwachte Aktualität.
Im Ausland verlief die Rezeption Spenglers von Anfang an in ruhigeren Bahnen, obwohl der Untergang des Abendlandes auch hier keineswegs ungeachtet blieb. Benedetto Croce sah in Spengler nur einen Epigonen Giambattista Vicos, und in Frankreich wertete Lucien Febvre die Untergangsphilosophie als ein geschickt verabreichtes Balsam für den verletzten Nationalstolz des besiegten Nachbarn. Auch in Großbritannien war die Reaktion ziemlich kühl, obgleich ein Schriftsteller wie Evelyn Waugh zu den Bewunderern Spenglers zählte. Lediglich in den Vereinigten Staaten, wo man mit den Brüdern Henry und Brooks Adams zwei eigene Dekadenztheoretiker von Rang hervorgebracht hatte, war die Aufmerksamkeit anfänglich etwas größer. Eine 1926/28 erschienene amerikanische Übersetzung erreichte bis 1940 immerhin eine Auflage von 26000 Exemplaren. In den Jahren der Weltwirtschaftskrise wurde Spenglers Zivilisationskritik so etwas wie ein beliebtes Salonthema. Am deutlichsten ist dieser Einfluß bei F. Scott Fitzgerald wahrnehmbar, der Spengler in einer Reihe mit Marx stellte und auch nach Kriegsausbruch entschieden gegen den Nationalsozialismus abgrenzte. Etwa zur gleichen Zeit hielt sein Landsmann Ezra Pound, auch er ein eifriger Spenglerleser, im italienischen Rundfunk glühende faschistische Propagandareden.
Auch in der Nachkriegszeit galt das Interesse an Spengler im westlichen Ausland überwiegend seiner Kulturphilosophie, während seine politischen Ideen bemerkenswert nachsichtig behandelt wurden. Henry A. Kissinger spricht von "startingly accurate predictions", und in Frankreich hat Raymond Aron wiederholt den analytischen Scharfsinn Spenglers gewürdigt. Noch zwei jüngere amerikanische Arbeiten über Spengler konzentrieren sich ganz auf die Überprüfung seiner geschichtsphilosophischen Prognosen.
Eben diese Vorhersagen umgaben den Namen Spenglers nach 1945 in Deutschland mit einem etwas unheimlichen Klang. "Wird Spengler recht behalten?", stellte Theodor W. Adorno die bange Frage, und selbst der Bundesminister des Innern, Gerhard Schröder, fühlte sich 1954 genötigt, in einer öffentlichen Rede vor den schädlichen Einflüssen der Lehre Spenglers. zu warnen. Schröder wies im übrigen zu Recht darauf hin, daß die Erfindung der Atombombe eine Situation geschaffen hatte, die den apokalyptischen Horizont Spenglers obsolet erscheinen ließ. Die Sorge des Ministers erwies sich als unbegründet. Mochte der Untergang des Abendlandes aktueller denn je sein, Der Untergang des Abendlandes war es nicht mehr.
Das sah und sieht die marxistische Theorie anders. Ernst Bloch betrachtete Spenglers Philosophie als dramatisierende Verwechslung des Weltuntergangs mit dem Untergang einer Klasse, und Max Horkheimer gebrauchte verwandte Argumente. In weitausholendem historischen Durchgang denunzierte Georg Lukacs die bürgerliche Philosophie als "Apologetik des Kapitalismus" und wertete Spenglers Theorie entsprechend als "Weltanschauung der militanten Reaktion". In der Geschichtsschreibung der DDR erscheint Spengler als eine der vielen Literaturmarionetten an der bürgerlichen Abwehrfront gegen die soziale Revolution. Für diesen Kampf, weiß die Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, werde sein Gedankengut in der Bundesrepublik Deutschland heute wieder fruchtbar gemacht: "Spenglers ultra reaktionärer Bourgeoissozialismus entsprach den Herrschaftsinteressen der deutschen Monopolbourgeoisie, worin auch der letzte Grund für die in der westdeutschen spätkapitalistischen Gesellschaft vorgenommene Neuaufwertung Oswald Spenglers zu suchen ist."
Daran ist kaum etwas Wahres. Ganz im Gegenteil hat Spenglers politische Vergangenheit das Urteil über seine Philosophie in der Bundesrepublik Deutschland nachhaltig mitbestimmt. Die erwähnte Rede des Innenministers Schröder, der im Sinne der DDR-Historiker doch wohl als Exponent der herrschenden Klasse gelten muß, spricht kaum für eine Inanspruchnahme Spenglers durch die westdeutsche "Monopolbourgeoisie". Vor allem aber hat die mit vordergründiger Absicht unterstellte Spengler-Renaissance niemals stattgefunden. Betrachtet man die Zusammenhänge genauer, so ergibt sich ein anderes Bild.
Die "Diskussion ohne Ende" um Arnold J. Toynbees Monumentalopus A Study of History (19.34-1954) brachte in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre in der Tat auch Spenglers Kulturtheorie wieder ins Gespräch. Die Ähnlichkeit der beiden Geschichtsphilosophien forderte den Vergleich geradezu heraus, zumal Toynbee selbst ausdrücklich auf seinen Vorgänger hinwies. Als die Diskussion schließlich doch ein Ende fand, hatte sich das Interesse an der Untergangsphilosophie bereits wieder verloren. Ohnehin waren große Teile der Kontroverse, etwa um Toynbees Prinzip von "challenge and response", ohne Auseinandersetzung mit Spengler geführt worden. Auch als in den sechziger Jahren Spenglers Briefwechsel und eine Auswahl aus seinem philosophischen Nachlaß veröffentlicht wurden, kam es keineswegs zu einer Wiederentdeckung. Bezeichnenderweise Waren es die Briefe, also vornehmlich Quellen zur zeitgeschichtlichen Rolle Spenglers, die eine weitaus stärkere Beachtung fanden als die philosophischen Stücke. Spenglers Werk war historisch geworden, und es wurde auch so rezipiert. Die Frage nach seiner Aktualität wird von denjenigen, die sie heute aufwerfen, meist selbst abschlägig beantwortet. Bislang zumindest hat sich daran nichts geändert.
Eine philosophische oder wissenschaftliche Tradition ist aus dem Untergang des Abendlandes nicht hervorgegangen. Das heißt nicht, daß nicht einzelne Gelehrte wie der Soziologe Hans Freyer oder der Kunsthistoriker Hans Sedlmayr deutlich von Spengler beeinflußt wurden. Seine Zivilisationskritik bietet eine Reihe von auch heute noch bemerkenswerten Beobachtungen und Antizipationen zur gesellschaftlichen Entwicklung im 20. Jahrhundert. Vermutlich könnte eine gen aue wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung auch nachweisen, daß der heftige zeitgenössische Disput über Spengler an den Geisteswissenschaften nicht spurlos vorübergegangen ist. Vor allem die Universalhistorie verdankt ihm manchen Anstoß. So ist Spenglers historisches Genie, seine unnachahmliche Gabe, auch die entlegensten Details der Geschichte mit dem Zauberstab der Analogie zu berühren, denn auch kaum je bestritten worden. Aber zugleich herrscht im Untergang des Abendlandes soviel sachliche und begriffliche Willkür, daß sich, wie der damals berühmte Neukantianer Heinrich Rickert unwillig bemerkte, "in einem wissenschaftlichen Zusammenhang davon überhaupt nicht gut reden" läßt.
Spenglers Geschichtsphilosophie konnte deshalb nicht, wie ihr Verfasser glaubte, zum Anstoß für eine Forschungsrevolution werden, weil sie weder schwerwiegende Widersprüche des alten noch analytisch haltbare Kriterien für ein neues Wissenschaftsparadigma aufzuzeigen vermochte. In einem der besten Aufsätze über Spengler hat Hermann Lübbe diesen Sachverhalt gekennzeichnet: "Weder aus ökonomischer noch aus soziologischer Perspektive ergab sich ein Sachzwang, im Kontext von Bemühungen zur Charakteristik der Rolle, die sozialwissenschaftliche Theorien über rekurrente, regelhafte gesellschaftliche Prozesse in der Historiographie spielen, in eine methodologische Auseinandersetzung mit Spengler einzutreten. [...] Eine epistemologisch disziplinierte Geschichtstheorie kann an Spengler heute deswegen nicht anknüpfen, weil eine solche Theorie, unbeschadet seines Anspruchs, die Historiographie prognostisch gemacht zu haben, bei Spengler selbst nicht auffindbar ist. "
Spenglers historische Relevanz bleibt dessen ungeachtet bestehen. Daß der Untergang des Abendlandes eines der großen Schlagwörter des Jahrhunderts wurde und Spenglers Name bis heute als Chiffre für Kulturpessimismus und Zivilisationskritik durch ungezählte Publikationen geistert, ist dafür nicht einmal ausschlaggebend. Wenn sich eine politische Geistesgeschichte des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts "ohne Eingehen auf die Diskussion um Spengler nicht schreiben" läßt, wie ein ausgewiesener Kenner dieser Geistgeschichte bemerkt [Helmut Gollwitzer], dann ist damit auch Spenglers Zeitgebundenheit angesprochen. Aus dem weltanschaulichen Diskurs seiner Generation ist er schlechterdings nicht wegzudenken. In seinem Werk wie in seinem intellektuellen Lebensweg werden die ideologischen Verhaftungen der Epoche und ihre Konsequenzen explizit wie bei kaum einem anderen Autor. Darin liegt seine fortdauernde historische Bedeutung, aber auch die Grenze seiner Aktualität.