Seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts hatten verschiedene deutsche Schriftsteller und Denker unter dem Einfluß der französischen Aufklärung die Begriffe "Kultur" und "Zivilisation" in die deutsche Sprache eingeführt. Beide Worte wurden bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts vor allem als Synonyme gebraucht. Man meinte sowohl mit dem Kultivieren als auch dem Zivilisieren die Verfeinerung der menschlichen Persönlichkeit. Bereits kurze Zeit nach der Einführung in den deutschen Sprachgebrauch wurden die Begriffe aber von einigen Philosophen auch eingesetzt, um zwischen "innere.!'" und "äußerer" Bildung zu unterscheiden. Im Hintergrund spielte dabei der bereits erwähnte soziale Gegensatz zwischen dem gebildeten deutschen Bürgertum und dem deutschen Hofadel, der sich an der französischen civilisation orientierte, eine Rolle. Eine aus der Mittelschicht abstammende Intelligenzia entwickelte die deutschen Begriffe "Kultur" und "Bildung" als Gegenstück zu den Sitten und Gebräuchen des Adels und der französischen civilisation.142
Der Philosoph Immanuel Kant (1724-1804) drückte in seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) mit den Begriffen "Kultur", "Zivilisation" und "Moralität" erstmals einen Unterschied im Bildungsniveau aus.143 "Zivilisierung" war die niedrigste und unwichtigste Phase im Bildungsprozeß des Menschen, während "Kultur" einen höheren Wert enthielt, der durch die Künste und Wissenschaften bestimmt wurde. "Kultur" bedeutete, daß man sich von innen heraus und aufgrund eines moralischen Zwangs als gebildeter Mensch betrug. Beide Phasen waren dem höheren Ideal der "Moralität" untergeordnet. Zivilisation und Kultur hatte der Mensch für Kant bereits erreicht, aber das Stadium der "Moralität" lag noch in weiter Ferne. Der Dichter und Philosoph Friedrich Schiller vertiefte den Gegensatz zwischen innerer und äußerer Bildung in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795). Bei ihm kommt der terminologische Unterschied nicht explizit zur Sprache, aber der Begriff "Zivilisation" sollte im Gegensatz zur griechischen "Kultur" implizit die negativen Seiten der modernen Bildung andeuten. Das Individuum wurde durch äußere und mechanische Mittel gezwungen, sich auf Kosten seiner subjektiven Bedürfnisse dem Ganzen anzupassen.
Ebenso wie bei Kant repräsentieren bei dem Philosophen Wilhe1m von Humboldt (1767-1835) die Begriffe "Zivilisation" und "Kultur" zwei Formen von Bildung, die schließlich in ein höheres und stärker "verinnerlichtes" Stadium, die "Bildung" als solche, münden sollen. Zivilisation bedeutete für Humboldt "die Vermenschlichung der Völker in ihren äußeren Einrichtungen und Gebräuchen und der darauf Bezug habenden inneren Gesinnung". Die Kultur fügte dieser "Veredlung des gesellschaftlichen Zustandes Wissenschaft und Kunst" hinzu, die "Bildung" stand dagegen für "die Sinnesart, die sich aus der Erkenntnis und dem Gefühle des gesamten geistigen und sittlichen Strebens harmonisch auf die Empfindung und den Charakter ergießt" .144 "Bildung" war das höchste Niveau, das das Wissen in der Entwicklung der Persönlichkeit und des Charakters eines Menschen auf sittlichem und geistigem Gebiet erreichen konnte, während die Kultur nur dessen objektiver Niederschlag war. "Zivilisation" mit ihrer Konnotation äußerer Bildung und politischer und sozialer Umgangsformen blieb in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts im Hintergrund - mit Ausnahme des Pädagogen Heinrich Pestalozzi.145 Die Begriffe "Kultur" und "Zivilisation" waren austauschbar, bis sie in der zweiten Hälfte des vorherigen Jahrhunderts eine andere Bedeutung und einen anderen Inhalt bekamen. Der Begriff der Kultur wurde erweitert und mehr im historisch-wissenschaftlichen Sinn gebraucht.
Der Historiker Jacob Burckhardt definierte in seiner 1860 veröffentlichten Kultur der Renaissance in Italien Kultur als ein an Raum und Zeit gebundenes Phänomen, d.h. als ein Ganzes kultureller Erscheinungen, das historisch aufgefaßt werden müsse. Burckhardt umschrieb Kultur als "das in Lebensformen, Wissenschaft, Sitte und Religion offenbar werdende Wesensbild einer Zeit".146 Mir dieser Definition, die den Zeitgeist einer bestimmten historischen Epoche betonte, war der Weg frei für die Untersuchung der Vielfalt und der Einmaligkeit von Kulturen in einer bestimmten Epoche und an einem bestimmten Ort; Spengler hat von dieser Möglichkeit reichlich Gebrauch gemacht. Der Begriff der Zivilisation erhielt dagegen vor allem nach der Reichsgründung und den Gründerjahren einen negativen Beiklang: Er wurde zunehmend mit den Erscheinungen assoziiert, die eine moderne Industriegesellschaft kennzeichneten - Technik, Wirtschaft, Urbanisierung, Materialismus, Utilitarismus und (internationale) Politik. Zivilisation stand für die "äußeren", seelenlosen, intellektuellen, nivellierenden, "zweckmäßigen" Aspekte des Daseins, während der Begriff der Kultur ausschließlich den positiven Werten der Kreativität, Kunst, Literatur, Moral, Religion und Erziehung vorbehalten war. Damit wurde die Linie Kants und Humboldts fortgesetzt.
In der Zeit zwischen 1880 und 1914 bürgerte sich die Antithese von Kultur und Zivilisation in Deutschland endgültig ein. Verschiedene Philosophen und andere Wissenschaftler - Historiker, Soziologen und Anthropologen - haben zu dieser pejorativen Entwicklung des Zivilisationsbegriffs beigetragen und ihm die Kultur als positive Erscheinung gegenübergestellt. Der Soziologe Ferdinand Tönniesl47, der rassistische Schriftsteller Houston Stewart Chamberlainl48, der Kulturphilosoph Leopold Ziegler149 und Friedrich Nietzsche sind hierfür Beispiele. In Der Wille zur Macht (1884-1888) ging Nietzsche von einer unüberbrückbaren Kluft zwischen Kultur und Zivilisation aus: "Cultur contra Civilisation. Die Höhepunkte der Cultur und Civilisation liegen auseinander: man soll sich über den abgründlichen Antagonismus von Cultur nicht irreführen lassen."150 Die Kultur habe ihren Höhepunkt in Zeiten der Korruption und gehöre den freien amoralischen Künstlernaturen. Zivilisation sei "Thierzähmung", die Unterdrückung der kreativen Freiheit der Genies, der "geistige[n] und kühnste[n] Naturen".151 Nietzsche wies die Zivilisation zurück, da sie das Ideal de "Herdenmenschen" sei und Angst vor dem "Übermenschen" bedeute. Diese Idee des höher stehenden Menschen hat Spengler nicht weiter vertieft, sondern sogar verworfen.152 Auch die Auffassung, daß Politik und Staat für Nietzsche keine kulturellen Qualitäten besaßen - Kultur als "Chaos" und Staat als "Ordnung" waren Antagonisten - wich von Spenglers späteren Standpunkten ab. Nietzsche zufolge stellten alle großen Kulturperioden Zeiten politischer Desintegration und moralischen Verfalls darl53, während Spengler der Politik sowohl in der Kultur- als auch der Zivilisationsepoche denselben Wert wie der Kunst zuerkannte. Für ihn waren beide Erscheinungen gleichzeitig der Gesetzmäßigkeit von Entstehung, Blüte und Untergang unterworfen.
Was Nietzsche an Spengler weitergegeben hatte, war das Verständnis der Kultur als eine "Einheit des künstlerischen Stils in allen Lebensäußerungen"154 und auch die Vorstellung, daß die Menschheit keine Einheit sei, sondern daß es eine "unlösbare Vielheit von aufsteigenden und niedersteigenden Lebensprozessen" gebe. Spengler interpretierte dies aber auf der Grundlage der Morphologie Goethes auf ganz eigene Weise. 155 Nietzsches Kulturbegriff war noch ausschließlich mit Kunst und Kreativität verbunden, während in Spenglers Kulturphilosophie der Begriff "Kultur" zu einem Mega-Begriff heranwuchs, der alle im neunzehnten Jahrhundert entstandenen Konnotationen, einschließlich der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und (natur)wissenschaftlichen, umfaßte. Während des Ersten Weltkriegs erreichte die Kultur-Zivilisations-Antithese ihren Höhepunkt; die deutsche "Kultur" wurde vor allem als politisch-ideologisches Propagandainstrument gegenüber den westlichen Zivilisationsideen eingesetzt. Ich werde darauf im folgenden Kapitel bei der Behandlung der "Ideen von 1914" im Zusammenhang mit den politischen Vorstellungen Spenglers während des Krieges noch eingehen.