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Universität Tübingen – Historisches Seminar –WS 04/05

HS Kulturgeschichte der „Klassischen Moderne“ in Westeuropa – Dr. U. Planert

Referenten: Aikko Bonanati, Marilena Henke, Peter Seiler

Seminartexte für die Sitzung am 24.01.05:             GRUPPE 2

Quellenauszug aus: Oswald Spengler, Untergang des Abendlandes: Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, München 1923 (Ungekürzte Sonderausg. in e. Bd., München 1980, Seite 43-50 + 142-145 +  448-451).

 

 

 

 

 

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  Der Untergang des Abendlandes, so betrachtet, bedeutet nichts Geringeres als das Problem der Zivilisation. Eine der Grundfragen aller höheren Geschichte liegt hier vor. Was ist Zivilisation, als organisch-logische Folge, als Vollendung und Ausgang einer Kultur begriffen?

Denn jede Kultur hat ihre eigne Zivilisation. Zum ersten Male werden hier die beiden Worte, die bis jetzt einen unbestimmten Unterschied ethischer Art zu bezeichnen hatten, in periodischem Sinne, als Ausdrücke für ein strenges und notwendiges organisches Nacheinander gefaßt. Die Zivilisation ist das unausweichliche Schicksal einer Kultur. Hier ist der Gipfel erreicht, von dem aus die letzten und schwersten Fragen der historischen Morphologie lösbar werden. Zivilisationen sind die äußersten und künstlichsten Zustände, deren eine höhere Art von Menschen fähig ist. Sie sind ein Abschluß; sie folgen dem Werden als das Gewordene, dem Leben als der Tod, der Entwicklung als die Starrheit, dem Lande und der seelischen Kindheit, wie sie Dorik und Gotik zeigen, als das geistige Greisentum und die steinerne, versteinernde Weltstadt. Sie sind ein Ende, un­widerruflich, aber sie sind mit innerster Notwendigkeit immer wieder erreicht worden.

Damit erst wird man den Römer als den Nachfolger des Hellenen verstehen. Erst so rückt die späte Antike in das Licht, das ihre tiefsten Geheimnisse preisgibt. Denn was hat es zu bedeuten - was man nur mit leeren Worten bestreiten kann -, daß die Römer Barbaren ge­wesen sind, Barbaren, die einem großen Aufschwung nicht 'vorangehen, sondern ihn beschließen? Seelenlos, unphilosophisch, ohne Kunst, rassehaft bis zum Brutalen, rücksichtslos auf reale Erfolge haltend, stehen sie zwischen der hellenischen Kultur und dem Nichts. Ihre nur auf das Praktische gerichtete Einbildungskraft - sie besaßen ein sakrales Recht, das die Beziehungen zwischen Göttern und Menschen wie zwischen Privatpersonen regelte, aber keine einzige echt römische Göttersage - ist ein Zug, den man in Athen überhaupt nicht antrifft. Griechische Seele und römischer Intellekt - das ist es. So unterscheiden sich Kultur und Zivilisation. Und das gilt nicht nur von der Antike. Immer wieder

 

 

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taucht dieser Typus starkgeistiger, vollkommen unmetaphysischer Menschen auf. In ihren Händen liegt das geistige und materielle Geschick einer jeden Spätzeit. Sie haben den babylonischen, ägyptischen, indischen, chinesischen, römischen Imperialismus durchgeführt. In solchen Zeiten sind der Buddhismus, Stoizismus und Sozialismus zu endgültigen Weltstimmungen herangereift, die ein erlöschendes Menschentum in seiner ganzen Substanz noch einmal zu ergreifen und umzugestalten vermögen. Die reine Zivilisation als historischer Vorgang besteht in einem stufenweisen Abbau anorganisch gewordener, erstorbener Formen.

Der Übergang von der Kultur zur Zivilisation vollzieht sich in der Antike im 4., im Abendland im 19. Jahrhundert. Von da an fallen die großen geistigen Entscheidungen nicht mehr wie zur Zeit der orphischen Bewegung und der Reformation in der "ganzen Welt", in der schließlich kein Dorf ganz unwichtig ist, sondern in drei oder vier Weltstädten, die allen Gehalt der Geschichte in sich aufgesogen haben und denen gegenüber die gesamte Landschaft einer Kultur zum Range der Provinz herabsinkt, die ihrerseits nur noch die Weltstädte mit den Resten ihres höheren Menschentums zu nähren hat. Weltstadt und Provinz - mit diesen Grundbegriffen jeder Zivilisation tritt ein ganz neues Formproblem der Geschichte hervor, das wir Heutigen gerade durchleben, ohne es in seiner ganzen Tragweite auch nur entfernt begriffen zu haben.

[…] Die Weltstadt bedeutet den Kosmopolitismus an Stelle der "Heimat",1 den kühlen Tatsachensinn an Stelle der Ehrfurcht vor dem überlieferten und Gewachsenen, die wissenschaftliche Irreligion als Petrefakt der voraufgegangenen Religion des Herzens, die "Gesellschaft" an Stelle des Staates, die natürlichen statt der erworbenen Rechte. Das Geld als anorganische, abstrakte Größe, von allen Beziehungen zum Sinn des fruchtbaren Bodens, zu den Werten einer ursprünglichen Lebenshaltung gelöst - das haben die Römer vor den Griechen voraus. Von hier an ist eine vornehme Weltanschauung

 

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auch eine Geldfrage. Nicht der griechische Stoizismus des Chrysipp, aber der spätrömische des Cato und Seneca setzt als Grundlage ein Vermögen voraus,2 und nicht die sozialethische Gesinnung des 18. Jahrhunderts, aber die des 20. ist, wenn sie über eine berufsmäßige - einträgliche - Agitation hinaus Tat werden will, eine Sache für Millionäre. Zur Weltstadt gehört nicht ein Volk, sondern eine Masse. Ihr Unverständnis für alles überlieferte, in dem man die Kultur bekämpft (den Adel, die Kirche, die Privilegien, die Dynastie, in der Kunst die Konventionen, in der Wissenschaft die Grenzen der Erkenntnismöglichkeit), ihre der bäuerlichen Klugheit überlegene scharfe und kühle Intelligenz, ihr Naturalismus in einem ganz neuen Sinne, der über Sokrates und Rousseau weit zurück in bezug auf alles Sexuelle und Soziale an urmenschliche Instinkte und Zustände anknüpft, das panem et circenses, das heute wieder in der Verkleidung von Lohnkampf und Sportplatz erscheint - alles das bezeichnet der endgültig abgeschlossenen Kultur, der Provinz gegenüber eine ganz neue, späte und zu­kunftslose, aber unvermeidliche Form menschlicher Existenz.

[…] Was ist zivilisierte Politik von morgen im Gegensatz zur kultivierten von gestern? In der Antike Rhetorik, im Abendlande Journalismus, und zwar im Dienste jenes Abstraktums, das die Macht der Zivilisation repräsentiert, des Geldes. Sein Geist ist es, der unvermerkt die geschichtlichen Formen des Völkerdaseins durchdringt, oft ohne sie im geringsten zu ändern oder zu zerstören. Der römische Staat ist der Form nach vom älteren Scipio Africanus bis auf Augustus in viel höherem Grade stationär geblieben, als dies in der Regel angenommen wird. Aber die großen Parteien sind nur noch scheinbar Mittelpunkte der entscheidenden Aktionen. Es ist eine kleine Anzahl überlegener Köpfe, deren Namen in diesem Augenblick vielleicht nicht die bekanntesten sind, die alles entscheidet, während die große Masse der Politiker zweiten Ranges, Rhetoren und Tribunen, Abgeordnete und Journalisten, eine Auswahl nach Provinzhorizonten, nach unten die Illusion einer Selbstbestimmung des Volkes aufrecht erhält. Und die Kunst? Die Philosophie? Die Ideale der platonischen und der kantischen Zeit galten einem höhern Menschentum überhaupt; die des Hellenismus und der Gegenwart, vor allem der Sozialismus, der ihm innerlich ganz

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nahe verwandte Darwinismus mit seinen so ganz ungoetheschen Formeln vom Kampf ums Dasein und der Zuchtwahl, die damit wiederum verwandten Frauen- und Eheprobleme bei Ibsen, Strindberg und Shaw, die impressionistischen Neigungen einer anarchischen Sinnlichkeit, das ganze Bündel moderner Sehnsüchte, Reize und Schmerzen, deren Ausdruck die Lyrik Baudelaires und die Musik Wagners ist, sind nicht für das Weltgefühl des dörflichen und überhaupt des natürlichen Menschen, sondern ausschließlich für den weltstädtischen Gehirnmenschen da. Je kleiner die Stadt, desto sinnloser die Beschäftigung mit dieser Malerei und Musik. Zur Kultur gehört die Gymnastik, das Turnier, der Agon, zur Zivilisation der Sport. Auch das unterscheidet die hellenische Palästra vom römischen Zirkus.3 Die Kunst selbst wird Sport - das bedeutet l' art pour l' art - vor einem hochintelligenten Publikum von Kennern und Käufern, mag es sich um die Bewältigung absurder instrumentaler Tonmassen oder harmonischer Hindernisse, mag es sich um das "Nehmen" eines Farbenproblems han­deln. Eine neue Tatsachenphilosophie erscheint, die für metaphysische Spekulationen nur ein Lächeln übrig hat, eine neue Literatur, dem Intellekt, dem Geschmack und den Nerven des Großstädters ein Bedürfnis, dem Provinzialen unverständlich und verhaßt. Weder die alexandrinische Poesie, noch die Freilichtmalerei gehen das "Volk" etwas an. Der Übergang wird damals wie heute durch eine Reihe nur in dieser Epoche anzutreffender Skandale bezeichnet. Die Entrüstung der Athener über Euripides und die revolutionären Malweisen z. B. des Apollodor wiederholt sich in der Auflehnung gegen Wagner, Manet, Ibsen und Nietzsche.

  Man kann die Griechen verstehen, ohne von ihren wirtschaftlichen Verhältnissen zu reden. Die Römer versteht man nur durch sie. Bei Chäronea und bei Leipzig wurde zum letzten Male um eine Idee gekämpft. Im ersten punischen Kriege und bei Sedan sind die wirtschaftlichen Momente nicht mehr zu übersehen. Erst die Römer mit ihrer praktischen Energie haben der Sklavenhaltung jenen riesenhaften Stil gegeben, der für viele den Typus der antiken Wirtschaftsführung, Rechtsbildung und Lebensweise beherrscht und jedenfalls den Wert und die innere Würde der daneben stehenden

 

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freien Lohnarbeit gewaltig herabgesetzt hat. Erst die germanischen, nicht die romanischen Völker Westeuropas und Amerikas haben dementsprechend aus der Dampfmaschine eine das Bild der Länder verändernde Großindustrie entwickelt. Man wird die Beziehung beider zum Stoizismus und zum Sozialismus nicht übersehen. Erst der römische, durch C. Flaminius angekündigte, in Marius zum erstenmal Gestalt gewordene Cäsarismus hat innerhalb der antiken Welt die Erhabenheit des Geldes - in der Hand starkgeistiger, groß angelegter Tatsachenmenschen - kennen gelehrt. Ohne das ist weder Cäsar noch das Römertum überhaupt verständlich. Jeder Grieche hat einen Zug von Don Quijote, jeder Römer einen von Sancho Pansa - was sie Sonst noch waren, tritt dahinter zurück. (weiter UdA Seite 142-145:)

[…] Kulturen sind Organismen. Weltgeschichte ist ihre Gesamt-biographie. Die ungeheure Geschichte der chinesischen oder antiken Kultur ist morphologisch das genaue Seitenstück zur Kleingeschichte es einzelnen Menschen, eines Tieres, eines Baumes oder einer Blume. Das ist für den faustischen Blick keine Forderung, sondern eine Erfahrung. Will man die überall wiederholte innere Form kennen lernen, so hat die vergleichende Morphologie der Pflanzen und Tiere längst die Methode dazu vorbereitet.4 Im Schicksal der einzelnen, aufeinander folgenden, nebeneinander aufwachsenden, sich berührenden, überschattenden, erdrückenden Kulturen erschöpft sich der Gehalt aller Menschengeschichte. Und läßt man ihre Gestalten, die bis jetzt nur allzu tief unter der Oberfläche einer trivial fortlaufenden "Geschichte der Menschheit" verborgen waren, im Geiste vorüberziehen, so muß es gelingen, die Urgestalt der Kultur, frei von allem Trübenden und Unbedeutenden aufzufinden, die allen einzelnen Kulturen als Formideal zugrunde liegt.

Ich unterscheide die Idee einer Kultur, den Inbegriff ihrer inneren Möglichkeiten, von ihrer sinnlichen Erscheinung im Bilde der Ge­schichte als der vollzogenen Verwirklichung. Es ist das Verhältnis der Seele zum lebenden Körper, ihrem Ausdruck inmitten der Lichtwelt unsrer Augen. Die Geschichte einer Kultur ist die fortschreitende Verwirklichung ihres Möglichen. Die Vollendung ist gleichbedeutend mit dem Ende. So verhält sich die apollinische Seele, die einige von uns

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vielleicht verstehen und miterleben können, zu ihrer Entfaltung in der Wirklichkeit, zur "Antike", deren dem Auge und Verstand zugänglichen Reste der Archäologe, der Philologe, der Ästhetiker und der Historiker untersuchen.

  Kultur ist das Urphänomen aller vergangenen und künftigen Weltgeschichte. Die tiefe und wenig gewürdigte Idee Goethes, die er in seiner "lebendigen Natur" entdeckte und seinen morphologischen Forschungen stets zugrunde gelegt hat, soll hier in ihrem genauesten Sinne auf all die vollkommen ausgereiften, in der Blüte erstorbenen, halbentwickelten, im Keim erstickten Bildungen der menschlichen Geschichte angewendet werden. Es ist eine Methode des Erfühlens, nicht des Zerlegens. "Das Höchste, wozu der Mensch gelangen kann, ist das Erstaunen, und wenn ihn das Urphänomen in Erstau­nen setzt, so sei er zufrieden; ein Höheres kann es ihm nicht gewäh­ren und ein Weiteres soll er nicht dahinter suchen: hier ist die Grenze." Ein Urphänomen ist dasjenige, worin die Idee des Wer­dens rein vor Augen liegt. Goethe sah die Idee der Urpflanze in der Gestalt jeder einzelnen, zufällig entstandenen oder überhaupt möglichen Pflanze klar vor seinem geistigen Auge. Er ging bei seiner Untersuchung des os intermaxillare vom Urphänomen des Wirbeltiertypus, auf anderem Gebiete von der geologischen Schichtung, vom Blatt als der Urform aller pflanzlichen Organe, von der Metamorphose der Pflanzen als dem Urbild alles organischen Werdens aus. "Dasselbe Gesetz wird sich auf alles übrige Lebendige anwenden lassen", schrieb er aus Neapel an Herder, als er ihm seine Entdeckung mitteilte. Es war ein Blick auf die Dinge, den Leibniz verstanden hätte; das Jahrhundert Darwins ist ihm so fern als möglich geblieben.

Aber eine Geschichtsbetrachtung, die von den Methoden des Darwinismus, das heißt der systematischen, auf dem Kausalprinzip beruhenden Naturwissenschaft ganz frei wäre, gibt es überhaupt noch nicht. Von einer strengen und klaren, ihrer Mittel und Grenzen vollkommen bewußten Physiognomik, deren Methoden erst noch zu Emden wären, ist niemals die Rede gewesen. Hier liegt die große Aufgabe des 20. Jahrhunderts vor, den inneren Bau der organischen Einheiten, durch die und an denen sich Weltgeschichte vollzieht,

 

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sorgfältig bloßzulegen, das morphologisch Notwendige und Wesenhafte vom Zufälligen zu unterscheiden, den Ausdruck der Begebenheiten zu begreifen und die ihm zugrunde liegende Sprache zu ermitteln.

  Eine unübersehbare Masse menschlicher Wesen, ein uferloser Strom, der aus dunkler Vergangenheit hervortritt, dort, wo unser Zeitgefühl seine ordnende Wirksamkeit verliert und die ruhelose Phantasie - oder Angst - in uns das Bild geologischer Erdperioden hingezaubert hat, um ein nie zu lösendes Rätsel dahinter zu verbergen; ein Strom, der sich in eine ebenso dunkle und zeitlose Zukunft verliert: das ist der Untergrund des faustischen Bildes der Menschengeschichte. Der einförmige Wellenschlag zahlloser Generationen bewegt die weite Fläche. Glitzernde Streifen breiten sich aus. Flüchtige Lichter ziehen und tanzen darüber hin, verwirren und trüben den klaren Spiegel, verwandeln sich, blitzen auf und verschwinden. Wir haben sie Geschlechter, Stämme, Völker, Rassen genannt. Sie fassen eine Reihe von Generationen in einem beschränkten Kreise der historischen Oberfläche zusammen. Wenn die gestaltende Kraft in ihnen erlischt - und diese Kraft ist eine sehr verschiedene und bestimmt von vornherein eine sehr verschiedene Dauer und Plastizität dieser Bildungen -, erlöschen auch die physiognomischen, sprachlichen, geistigen Merkmale, und die Erscheinung löst sich wieder in dem Chaos der Generationen auf. Arier, Mongolen, Germanen, Kelten, Parther, Franken, Karthager, Berber, Bantu sind Namen für höchst verschiedenartige Gebilde dieser Ordnung.

Über diese Fläche hin aber ziehen die großen Kulturen ihre majestätischen Wellenkreise. Sie tauchen plötzlich auf, verbreiten sich in prachtvollen Linien, glätten sich, verschwinden, und der Spiegel der Flut liegt wieder einsam und schlafend da.

  Eine Kultur wird in dem Augenblick geboren, wo eine große Seele aus dem urseelenhaften Zustande ewig-kindlichen Menschentums erwacht, sich ablöst, eine Gestalt aus dem Gestaltlosen, ein Begrenztes und Vergängliches aus dem Grenzenlosen und Verharrenden. Sie erblüht auf dem Boden einer genau abgrenzbaren Landschaft, an die sie pflanzenhaft gebunden bleibt. Eine Kultur stirbt, wenn diese Seele die

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 volle Summe ihrer Möglichkeiten in der Gestalt von Völkern, Sprachen, Glaubenslehren, Künsten, Staaten, Wissenschaften verwirklicht hat und damit wieder ins Urseelentum zurückkehrt. Ihr lebendiges Dasein aber, jene Folge großer Epochen, die in strengem Umriß die fortschreitende Vollendung bezeichnen, ist ein tiefinnerlicher, leidenschaftlicher Kampf um die Behauptung der Idee gegen die Mächte des Chaos nach außen, gegen das Unbewußte nach innen, in das sie sich grollend zurückgezogen haben. Nicht nur der Künstler kämpft gegen den Widerstand der Materie und gegen die Vernichtung der Idee in sich. Jede Kultur steht in einer tiefsymbolischen und beinahe mystischen Beziehung zum Ausgedehnten, zum Raume, in dem, durch den sie sich verwirklichen will. Ist das Ziel erreicht und die Idee, die ganze Fülle innerer Möglichkeiten vollendet und nach außen hin verwirklicht, so erstarrt die Kultur plötzlich, sie stirbt ab, ihr Blut gerinnt, ihre Kräfte brechen - sie wird zur Zivilisation. Das ist es, was wir bei den Worten Ägyptizismus, Byzantinismus, Mandarinentum fühlen und verstehen. So kann sie, ein verwitterter Baumriese im Urwald, noch Jahrhunderte und Jahrtausende hindurch die morschen Äste emporstrecken. Wir sehen es an China, an Indien, an der Welt des Islam. So ragte die antike Zivilisation der Kaiserzeit mit einer scheinbaren Jugendkraft und Fülle riesenhaft auf und nahm der jungen arabi­schen Kultur des Ostens Luft und Licht.

Dies ist der Sinn aller Untergänge in der Geschichte - der inneren und äußeren Vollendung, des Fertigseins, das jeder lebendigen Kultur bevorsteht -, von denen der in seinen Umrissen deutlichste als "Untergang der Antike" vor uns steht, während wir die frühesten Anzeichen des eignen, eines nach verlauf und Dauer jenem völlig gleichartigen Ereignisses, das den ersten Jahrhunderten des nächsten Jahrtausends angehört, den "Untergang des Abendlandes", heute schon deutlich in und um uns spüren.5

Jede Kultur durchläuft die Altersstufen des einzelnen Menschen. Jede hat ihre Kindheit, ihre Jugend, ihre Männlichkeit und ihr Greisentum. Eine junge, verschüchterte, ahnungsschwere Seele offenbart sich in der Morgenfrühe der Romanik und Gotik. Sie erfüllt die faustische

 

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Landschaft von der Provence der Troubadoure bis zum Hildesheimer Dom Bischof Bernwards. Hier weht Frühlingswind. "Man sieht in den Werken der altdeutschen Baukunst", sagt Goethe, "die Blüte eines außerordentlichen Zustandes. Wem eine solche Blüte unmittelbar entgegentritt, der kann nichts als anstaunen; wer aber in das geheime innere Leben der Pflanze hineinsieht, in das Regen der Kräfte und wie sich die Blüte nach und nach entwickelt, der sieht die Sache mit ganz andern Augen, der weiß, was er sieht." Kindheit spricht ebenso und in ganz verwandten Lauten aus der frühhomerischen Dorik, aus der altchristlichen, das heißt früharabischen Kunst und aus den Werken des mit der 4. Dynastie beginnenden Alten Reiches in Ägypten. Da ringt ein mythisches Weltbewußtsein mit allem Dunklen und Dämonischen in sich und in der Natur wie mit einer Schuld, um langsam dem reinen lichtklaren Ausdruck eines endlich gewonnenen und begriffenen Daseins entgegenzureifen. Je mehr eine Kultur sich der Mittagshöhe ihres Daseins nähert, desto männlicher, herber, beherrschter, gesättigter wird ihre endlich gesicherte Formensprache, desto gewisser ist sie im Gefühl ihrer Kraft, desto klarer werden ihre Züge. In der Frühzeit war das alles noch dumpf, verworren, suchend, von kindlicher Sehnsucht und Angst zugleich erfüllt. Man betrachte die Ornamentik romanisch-gotischer Kirchenportale Sachsens und des südlichen Frankreichs. Man denke an die altchristlichen Katakomben, an die Vasen des Dipylonstils. Jetzt, im vollen Bewußtsein der gereiften Gestaltungskraft, wie sie die Zeitalter des beginnenden Mittleren Reiches, der Peisistratiden, Justinians 1., der Gegenreformation zeigen, erscheint jeder Einzelzug des Ausdrucks gewählt, streng, ge­messen, von einer wunderbaren Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit. Hier Emden sich überall Augenblicke einer leuchtenden Vollendung, Augenblicke, in denen der Kopf Amenemhets III. (die Hyksossphinx von Tanis), die Wölbung der Hagia Sophia, die Gemälde Tizians entstanden sind. Noch später, zart, beinahe zerbrech­lich, von der wehen Süßigkeit der letzten Oktobertage sind die knidische Aphrodite und die Korenhalle des Erechtheion, die Arabesken an sarazenischen Hufeisenbögen, der Dresdner Zwinger, Watteau und Mozart. Zuletzt, im Greisentum der anbrechenden Zivilisation, erlischt das Feuer der

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 Seele. Die abnehmende Kraft wagt sich noch einmal, mit halbem Erfolge - im Klassizismus, der keiner erlöschenden Kultur fremd ist - an eine große Schöpfung; die Seele denkt noch einmal - in der Romantik - wehmütig an ihre Kindheit zurück. Endlich verliert sie, müde, verdrossen und kalt, die Lust am Dasein und sehnt sich - wie zur römischen Kaiserzeit - aus tausendjährigem Lichte wieder in das Dunkel urseelenhafter Mystik, in den Mutterschoß, ins Grab zurück. Das ist der Zauber der "zweiten Religiosität", wie ihm damals der Mithras-, Isis- und Solkult auf spätantike Menschen ausübten - dieselben Kulte, welche eine eben ertagende Seele im Osten als den frühesten, träumerischen, ängstlichen Ausdruck ihres Alleinseins in dieser Welt mit einer ganz neuen Innerlichkeit erfüllt hatte.

(weiter UdA Seite 448-451:)

[…] Als Nietzsche das Wort "Umwertung aller Werte" zum ersten Male niederschrieb, hatte endlich die seelische Bewegung dieser Jahrhunderte, in deren Mitte wir leben, ihre Formel gefunden. Um­wertung aller Werte - das ist der innerste Charakter jeder Zivilisation. Sie beginnt damit, alle Formen der voraufgegangenen Kultur umzuprägen, anders zu verstehen, anders zu handhaben. Sie erzeugt nicht mehr, sie deutet nur um. Darin liegt das Negative aller Zeitalter dieser Art. Sie setzen den eigentlichen Schöpfungsakt voraus. Sie treten nur eine Erbschaft von großen Wirklichkeiten an. Blicken wir auf die späte Antike und prüfen wir dort, wo das entsprechende Ereignis liegt: es hat sich innerhalb des hellenistisch-römischen Stoizismus, innerhalb des langen Todeskampfes der apollinischen Seele also zugetragen. Gehen wir von Epiktet und Marc Aurel zurück auf Sokrates, den geistigen Vater der Stoa, in dem zuerst die innere Verarmung des antiken, großstädtisch und intellektuell gewordnen Lebens ans Licht trat: zwischen ihnen liegt die Umwertung aller antiken Seinsideale. Blicken wir auf Indien. Als König Asoka lebte, um 250 v. Chr., war die Umwertung des brahmanischen Lebens vollzogen; man vergleiche die vor und nach Buddha niedergeschriebenen Teile des Vedanta. Und wir? Innerhalb des ethischen Sozialismus in dem hier festgelegten Sinne, als der Grundstimmung der in die Steinmassen der großen Städte

 

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verschlagenen faustischen Seele, ist diese Umwertung eben jetzt im Gange. Rousseau ist der Ahnherr dieses Sozialismus. Rousseau steht neben Sokrates und Buddha, den anderen ethischen Wortführern großer Zivilisationen. Seine Ablehnung aller großen Kulturformen, aller bedeutungsvollen Konventionen, seine berühmte "Rückkehr zur Natur", sein praktischer Rationalismus lassen darüber keinen Zweifel. Jeder von ihnen hat eine tausendjährige Innerlichkeit zu Grabe getragen. Sie predigen das Evangelium der Menschlichkeit, aber es ist die Menschlichkeit des intelligenten Stadtmenschen, der die späte Stadt und mit ihr die Kultur satt hat, dessen "reine", nämlich seelenlose Vernunft nach einer Erlösung von ihr und ihrer gebietenden Form, von ihren Härten, von ihrer innerlich nicht mehr erlebten und deshalb verhaßten Symbolik sucht. Die Kultur wird dialektisch vernichtet. Lassen wir die großen Namen des 19. Jahrhunderts vorüberziehen, an die sich für uns dies mächtige Schauspiel knüpft: Schopenhauer, Hebbel, Wagner, Nietzsche, Ibsen, Strindberg, so überblicken wir das, was Nietzsche in dem fragmentarischen Vorwort zu seinem unvollendeten Hauptwerk beim Namen nannte, die Heraufkunft des Nihilismus. Sie ist keiner der großen Kulturen fremd. Sie gehört mit innerster Notwendigkeit zum Ausgang dieser mächtigen Organismen. Sokrates War Nihilist; Buddha war es. Es gibt eine ägyptische, arabische, chinesische so gut wie eine westeuropäische Entseelung des Menschlichen. Es handelt sich nicht um politische und wirtschaftliche, nicht einmal um eigentlich religiöse oder künstlerische Verwandlungen. Es handelt sich überhaupt nicht um Greifbares, nicht um Tatsachen, sondern um das Wesen einer Seele, die ihre Möglichkeiten restlos ver­wirklicht hat. Man wende nicht die gewaltigen Leistungen gerade des Hellenismus und der westeuropäischen Modernität ein. Sklaven­wirtschaft und Maschinenindustrie, "Fortschritt" und Ataraxia, Alexandrinismus und moderne Wissenschaft, Pergamon und Bayreuth, soziale Zustände, wie sie die "Politeia'; des Aristoteles und "Das Kapital" von Marx voraussetzen, sind lediglich Symptome im historischen Oberflächenbilde. Es handelt sich nicht um das äußere Leben, um Lebenshaltung, Institutionen, Sitten, sondern um das Tiefste und Letzte, das innere Fertigsein des Weltstadtmenschen - und des Provinzlers. Für

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 die Antike trat es zur Römerzeit ein. Für uns gehört es der Zeit nach 2000 an.

  Kultur und Zivilisation - das ist der lebendige Leib eines Seelentums und seine Mumie. So unterscheidet sich das westeuropäische Dasein vor und nach 1800, das Leben in Fülle und Selbstverständlichkeit, dessen Gestalt von innen heraus gewachsen und geworden ist, und zwar in einem mächtigen Zuge von den Kindertagen der Gotik an bis zu Goethe und Napoleon, und jenes späte, künstliche, wurzellose Leben unsrer großen Städte, dessen Formen der Intellekt entwirft. Kultur und Zivilisation - das ist ein aus der Landschaft geborener Organismus und der aus seiner Erstarrung hervorgegangene Mechanismus. Der Kulturmensch lebt nach innen, der zivilisierte Mensch nach außen, im Raume, unter Körpern und "Tatsachen". Was der eine als Schicksal fühlt, versteht der andere als Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Man ist von nun an Materialist in einem nur innerhalb einer Zivilisation gültigen Sinne, ob man es will oder nicht, und ob buddhistische, stoische, sozialistische Lehren sich in religiösen Formen geben oder nicht.

 

Anmerkungen:

 

1 Ein tiefes Wort, das seinen Sinn erhält, sobald der Barbar zum Kulturmenschen wird, und ihn wieder verliert, sobald der zivilisierte Mensch das "ubi bene, ibi patda" zum Wahlspruch erhebt.

2 Deshalb verfielen dem Christentum zuerst die Römer, die es sich nicht leisten konnten, Stoiker zu sein. Vgl. Bd. H, S. 1165f.

3 Die deutsche Gymnastik ist seit 1813 und den sehr provinzialen. Urwüchsigen Formen, die ihr Jahn damals gab, in rascher Entwicklung zum Sportmäßigen begriffen. Der Unterschied eines Berliner Sportplatzes an einem großen Tage von einem römischen Zirkus war schon 1914 sehr gering.

Anmerkungen:

   4 Es ist nicht die zerlegende des zoologischen "Pragmatismus" der Darwinisten mit ihrer Jagd nach Kausalzusammenhängen. sondern die anschauende und überschauende Goethes.

5 Vgl. Bd. 11, S. 673tf. Es ist nicht die Katastrophe der Völkerwanuerung, die wie

die Vernichtung der Mayakultur durch die Spanier (Dd.II, S.606ft:) ein Zufall ohne alle tiefere Notwendigkeit war, sondern der innere Abbau, der seit Hadrian und dementsprechend in China unter der östlichen Han-Dynastie (25-220) einsetzt.

 

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